Ich. Du. Wir. Dialog.

„Der Sensenstein hat bereits 200 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen und die Möglichkeit, dieses Jahr ein Sommercamp auf dem Sensenstein abzuhalten, ist gering.“ Auf diese Nachricht folgen Fragen:

Was war euer erster Gedanke, als ihr die Nachricht gelesen habt?

Was denkt ihr jetzt, nach einiger Zeit?

Was sind eure Ideen, Fantasien dazu?

Leider schaffe ich es nicht meine Gedanken auf drei Sätze zu reduzieren. Ich habe keine Erinnerung mehr daran wie es mir ging, als ich die Nachricht gelesen habe.
Ich habe aber ein paar Phantasien, die ich gerne mit euch teilen möchte.

Darf es uns gut gehen?
Dürfen wir eine Woche lang feiern und uns in Freude bewegen?

Nein, denn wenn es anderen schlecht geht, sollten wir uns solidarisch zeigen und aus Mitgefühl mit den Kriegsflüchtlingen auf das Sommercamp verzichten und unsere Beiträge spenden. Das große Leid, das diese Menschen gerade durchleben, macht es uns unmöglich, selbst Freude mit anderen zu teilen und sich in ausgelassener Stimmung miteinander zu bewegen.

Ja, das sollten wir unbedingt.

Ich möchte nachfolgend verschiedene Argumente dafür erläutern. Zu den dafür von mir verwendeten Begriffen möchte ich einige Erläuterungen vorrausschicken, die ihr wahrscheinlich alle kennt, aber wer weiß.

Als „Ich-Dialog" bezeichne ich den Dialog mit mir. Dieser kann sich auf allen Ebenen entwickeln, d.h. auf der Körperebene, auf der Bewegungsebene, auf der sinnlichen Ebene, im Sinne einer nach Innen gerichteten Aufmerksamkeit, im Denken über mich, mit mir, von mir usw., auf einer emotionalen Ebene und auf allen anderen möglichen Ebenen im dialogischen Austausch mit mir.

Der „Du-Dialog" beschreibt alle oben genannten Möglichkeiten im Dialog zwischen mir und einem Gegenüber. Dieses Gegenüber kann eine Person sein, aber auch ein Gegenstand, ein anderes Lebewesen oder ein Gegenüber, das sich in meiner Vorstellung bewegt. Zur besseren Veranschaulichung einige Beispiele für den „Du-Dialog": ein Pas de deux beim Tanz, ein Boxkampf, ein Gespräch mit einer Freundin, ein gedanklicher Austausch mit einem Baum. Auch ein inneres Gespräch mit dem verstorbenen Onkel ist in diesem Fall ein „Du-Dialog".

Der „Wir-Dialog" bezieht alles andere ein, das sich jenseits des Dialoges befindet. Numerisch bedeutet dies, alles was sich jenseits der Zahl 2 befindet, die sich wiederum aus der 1 zusammengesetzt hat. Die Besonderheit des „Wir-Dialoges" ist, dass dieser am weitesten vom Subjekt entfernt sein kann. Das Subjekt ist zwar immer Teil des Wir, dieser Teil kann aber immer kleiner werden. Anders als beim „Ich-Dialog“, bei dem das Subjekt mit sich im Dialog steht, begreift es sich im „Wir-Dialog“ nur als Teil eines größeren Ganzen, ohne den dieses selbst aber nicht existieren könnte. - Jede Gruppe ist nur so stark wie die einzelnen Teile dieser Gruppe.- Das Subjekt kann keinen „Wir-Dialog“ beschreiben, von dem es selbst nicht Teil ist.

Die Abgrenzung zu politischen Gruppen ist ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft. Das einzelne Subjekt möchte sich unter Umständen sehr stark von einer politischen Gruppe abgrenzen, dennoch bleibt es Teil der Gesellschaft, die all diese Gruppen umschließt. Eine Möglichkeit, nicht Teil des „Ich/Du/Wir-Dialoges“ zu sein, besteht nicht, denn auch das nicht Teil sein von etwas ist immer noch Teil von etwas.

Auf der Basis dieser Begrifflichkeiten möchte ich versuchen, die losen Enden der Ausgangsüberlegung zusammenzufügen. Darf es mir gut gehen, wenn es einer Gruppe von Menschen im gleichen Zeitraum schlecht geht? Diese Frage ist unter dem freundlichen Vertrauensvorschuss der LeserInnen wesentlich uninteressanter, als die sich daraus ergebenden weiteren Fragen:

Geht es uns gut, weil es anderen schlecht geht? 
Geht es uns besser, weil es anderen schlechter geht? 
Sollte es uns weniger gut gehen, damit es anderen besser gehen kann? 


All diesen Fragen ist eines gemein, sie bleiben in der Dualität verhaftet. Um über das, was jenseits der Dualität liegen könnte, sprechen zu können, lohnt es sich einen Blick auf die Dualität selbst zu werfen. 
Wir leben in einer von Dualität geprägten Welt, die sich aus der Energie der Potentiale zwischen Gut und Böse, Arm und Reich, Laut und Leise, Plus und Minus zu speisen scheint. Nur aus dem Schrecken des Krieges kann sich diese bis dahin undenkbare Hilfsbereitschaft entwickeln, die zum Wunder aller vor anderen Flüchtlingen aus anderen Kriegsgebieten einen Bogen zu machen scheint. Wie fühlen sich wohl die Menschen, die aus den Krisengebieten in Afrika zu uns geflüchtet sind und nicht sofort auf eine Familie getroffen sind, die sie in ihr Haus aufgenommen hat, wenn sie diese Bilder sehen? 
Es obliegt mir nicht, eine Wertung vorzunehmen, aber meine Gefühle bewegen sich hier zwischen Bewunderung, Dankbarkeit, Angst und Scham. 


Jetzt sind wir bei einem sehr interessanten Punkt in der Diskussion angelangt, nämlich den Gefühlen. Diese führen einerseits zu einer Verstärkung/Verringerung der Bindung zwischen uns Menschen und auf der anderen Seite können sie sehr handlungsleitend und verstörend unsere Sicht auf die Dinge trüben. 

Dies wird sehr aus der ursprünglichen Fragestellung sichtbar, die eine zeitliche Dimension mit einbezieht und damit auf die mögliche Veränderung bzw. ein Abfallen/Verblassen der Gefühle und damit ihres Wirkungspotentials anzuspielen scheint. 

Besonders starken Einfluss auf den Menschen hat die Angst. Sie hat meiner Ansicht nach das zweitgrößte Potential, führt aber in den meisten Fällen zu einer anhaltenden, im Extremfall erstarrenden Bewegung. Aus psychosomatischer Sicht ist die Angst mit einer Tonussteigerung der Muskulatur und Erhöhung des Sympathiko-Tonus einhergehend. Wenn wir jetzt die Angst aus dem Dialog heraus betrachten, dann führt sie zu einer fortschreitenden Reduktion in der Bereitschaft und auch Fähigkeit, sich in den Dialog zu begeben. 

Die Reduktion verläuft ausgehend vom „Wir-Dialog“ zum „Ich-Dialog“. Im „Ich-Dialog“ Gefangener der eigenen Angst zu sein, ist einer der wesentlichen Aspekte psychischer Erkrankung. Im Bewegungskontext spiegelt sich Angst in einer Reduktion der Fähigkeit, sich weich, fließend und einfühlsam mit mir und meinem Gegenüber zu bewegen, wider. Ich erinnere mich sehr gut an meine Begegnungen im Bewegungsdialog mit Anfängern. Die Bewegungen fühlten sich starr, fest und abrupt an. 


Ich verstehe meine Aufgabe in solch einem Dialog, eine Umgebung zu schaffen, die es meinem Gegenüber erlaubt, möglichst angstfreie und neue Bewegungserfahrungen zu machen. Wenn dies gelingt, kann etwas entstehen, das größer ist als die beiden einzelnen Teilnehmenden des Dialoges. Wir nennen es FLOW. 


Flow entsteht aus der Hingabe in einen unbekannten Raum, in unserem Kontext einen Bewegungsraum. In diesem führt handlungsleitend die Bewegung und nicht die Intention und damit das Ego. Flow kann sich nur in der Bewegung selbst manifestieren. 
Wesentliche Merkmale, um Flow zu erzeugen, sind: Erfahrung, Vertrauen, Freude an dem, was ich tue, Sicherheit in mir und Angstfreiheit. Hier zeigt sich wieder die Dualität, aber auch, dass Flow die Bewegung der Überwindung der Dualität sein kann. Wenn ich im Flow bin, bin ich nicht in der Dualität, sondern im Flow.


Menschen, die Kampfkunst praktizieren, tun dies aus verschiedensten Beweggründen. Einer davon ist, Möglichkeiten zu finden, sich durch Bewegung jenseits der Dualität zu begeben. Wir bleiben in der dualen Welt, im Spiel zwischen Leben und Sterben. Die Angst verliert jedoch ihre Macht, wenn wir einen Standpunkt einnehmen können, von dem wir aus dieses Spiel mit einer gewissen Distanz betrachten können.

Für einen kurzen Zeitraum nicht Teil dieses Spiels sein zu müssen.

Im besten Fall führt das zu mehr innerer Gelassenheit, vielleicht auch etwas mehr innerem Frieden. Menschen, die inneren Frieden praktizieren, auf welchem Weg auch immer, beginnen vermutlich weniger Kriege. Somit lässt sich das Üben von Quan Dao Kampfkunst als eine aktive Friedensarbeit ansehen.
Ich finde das eine gute Grundlage für mich, dem Wandel zustimmen zu können. 

Wo auch immer das Sommercamp stattfinden mag.

Malte Scaparra

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Absicht, Dao und die Neutralität des Herzens

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