Die Quelle fließt hindurch

Zur Wirkung von Narrativen über die Welt

Ich erinnere mich gerne zurück an die Zeit, wo ich qualitative Forschung betrieben habe und mich mit den ersten Forschungsansätzen zu narrativen Interviews befasst habe (Schmidt et al 1976, 1985).[1] 
Unser Anliegen bei den qualitativen  Forschungsansätzen (z.B. Biographieforschung von Krebserkrankten) war durch das Erfassen von ganzen Narrativen (abgeleitet aus dem lateinischen Verb narrare = erzählen), von Erzählungen von Lebensgeschichten zu einem konsistenten Ganzen der Erfassung von Haltungen und Einstellungen zu kommen. Seit Mitte der 1980er Jahre ist die Erfassung von Narrativen zunehmend Gegenstand soziologischer Forschung geworden. [2]

Definitionsgemäß

ist ein Narrativ eine sinnstiftende Erzählung, die etablierte Inhalte transportiert, die kulturelle und gesellschaftliche Werte wiedergeben und die Innen- und Außenwelt des Erzählers wiederspiegeln. Kosmologien, Religionen, gesellschaftliche Wertesysteme, wie z.B. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit sind Narrative, die Deutungsmuster über die Welt beinhalten, die relevant und etabliert sind und durch die jeweiligen kulturellen Traditionen hindurch ihre Bewertung erfahren.

Gleichsam als ein Modewort

erscheint das Wort „Narrativ“, da es in den Medien zunehmend Gebrauch findet, um Deutungsmuster zu bezeichnen. Narrative setzen Trends und Meinungen und gleichzeitig gelten sie – oft fast abwertend gedeutet – als bloße Story, die nicht auf Wahrheit beruht.
Andererseits zeigt das Wort Narrativ selbst auf, dass hier etwas erzählt wird. Erzählungen schufen im Ursprung eine „oral history”, die wiederum für eine Gemeinschaft eine kollektive Situationsdeutung sein kann und damit einen Kontext von Wahrhaftigkeit beansprucht.

Wenn  Putin 

die ukrainische Regierung zu Nazis und Faschisten erklärt, um einen Invasionskrieg in ein autonomes Land zu begründen, dann benutzt er hier emotional hoch wirksame Deutungen um ein Narrativ einer kollektiven Legitimation in Russland zu schaffen. Hier hilft kein Faktencheck. Vielmehr greifen diese Narrative direkt hinein in das Reich des kollektiven und individuellen Unbewussten, das folglich das politische, soziale und persönliche Handeln und Reagieren wesentlich mitbestimmt. Psychodynamisch gesehen beginnen dann alle nicht verarbeiteten, d.h. psychisch nicht durchlebten, gespürten und erkannten Traumata der Vergangenheit unser Handeln zu leiten. 

Gerade in den Turbulenzen 

der Gegenwart in Europa sind diese kollektiv immer noch nicht verarbeiteten Traumata wirksam. Diese Tatsache könnte uns in diesen Turbulenzen der jetzigen Kriegssituation um die Ukraine noch bewusster werden und in den kommunikativen Raum eingeladen werden. Hier ist nicht der Ort für politische Argumentation, doch in der Öffentlichkeit wird sehr deutlich ein Wandel von politischen Positionen wahrnehmbar, die noch vor kurzer Zeit „undenkbar“ waren. Wissenschaftlich sind diese Themen schon lange im Diskurs bis hin zur epigenetischen Mobilisation transgenetischer Informationen oder systemischen Wirkungsanalysen kollektiver Traumatisierungen. [3] 
Unsere Seele, unser tiefstes Wesen, die Quelle in uns ist pure Liebe, die sich durch unsere menschlichen Selbstkonstitutionen, ja allgemein durch unsere menschliche Geschichte fließt. [4]

In unserer Quan Dao Bewegung,

in unserem dialogischen Ansatz haben wir 2021 auf „das Ganze“ geschaut. Wir haben uns in den Bewusstseinsstrom hineinbegeben, um zu erfahren was geschieht, wenn wir den Blickwinkel des Ganzen selbst einnehmen. Dieser Dialog mit dem Ganzen eröffnete uns die Möglichkeit über die Welt der Gegensätze hinaus eine bewegte Sprache für das Ganze zu finden. Wir haben uns selbst als einen Reflex des Ganzen erfahren dürfen, den Druck erfahren dürfen, mit dem das Ganze sich zu Wort meldet und uns zeigt, was wesentlich ist. [5]

Aus der Kampfkunstperspektive 

des Quan Dao wirkt die Kriegssituation in Europa bis tief in unser Bewusstsein und unser Unbewusstes. Wir werden sogleich mit unserer Handlungsfähigkeit als Krieger*in konfrontiert und dürfen uns den grundlegenden Fragen stellen, die die aktualisierte Weltlage an uns richtet. Wer sind wir in diesen Zeiten?
Wehrhaft handlungsfähig?
Ganz in der Kunst des kampflosen Kampfes?
Mobilisiert oder ruhend?
Radikal akzeptierend was ist?
Krieger*innen an der Front?
Listig und unsichtbar?
Schon tot oder unsterblich ins Leben verliebt?

Wir werden direkt mit unseren Annahmen über diese Welt konfrontiert, über unsere Bilder, die wir malen, um zu dieser Welt zu gehören. Spirituell gesehen besteht für diese Welt keine Hoffnung, solange das Menschsein vom Ego und den Machtmotiven seiner Führer*innen bestimmt ist. 

Anpassung oder Widerstand

sind  nur zwei Seiten einer Medaille. Beide Haltungen geben der Welt, die befürchtet oder bekämpft wird, Energie. Der große Lehrer in dieser Frage ist der Dalai Lama, der der Unterdrückung seines Volkes nicht mit Aufgeben, nicht mit Kämpfen begegnete, sondern all dem Leid mit Mitgefühl und Gebet im grundlegenden Gutsein gegenübertrat.
Die Quelle fließt durch alle Annahmen (360 Grad), auf denen unsere Vorstellungen und Annahmen über die Welt beruhen, und erlaubt es quasi „von oben und von unten“ auf die Konstruktionsprinzipien der Erzählungen und Bilder über die Welt und des gesellschaftlichen Wertekontextes zu schauen.[6] 
Die Quelle spricht alle Sprachen, so wie der Heilige Geist in den Flammenzungen durch die Jünger Jesu in allen Sprachen spricht. Diese Dynamik des Unbewussten in dem Narrativen kann nur durch die energetische Wahrnehmung des Bewusstseinsstroms entdeckt werden, der durch die emotionale Ladung des Narrativen fließt. Unsere Narrative werden also in gewissem Sinn zu unserem kollektiven Schicksal und entwickeln zum Teil monströse Wirkungen. 

Wenn die Quelle spricht,

wird es still und alles scheint schon gesagt. Wenn die Quelle spricht, dann spricht die Stille, in der nichts mehr zu erzählen bleibt, denn „das Dao, das genannt werden kann, ist nicht das wirkliche Dao“ (Dao Dejing,1).
In der Stille entsteht Bewusstheit über unsere Glaubensmuster und Glaubensätze, die wir innen, wie außen in die Welt tragen. In der Stille selbst entsteht die Sensibilität, jenes Fühlen, dass es braucht, um still zu sein.

Ist etwa die Stille unser Beitrag zu einer Welt, deren Geschichten und Erzählungen schon alle erzählt wurden?

Radikale Klarheit möge unsere Handlungsfähigkeit sein.

 

Michael Schmidt 


[1] Vgl. Gaußmann/Schmidt, Lebensgeschichten von Hoden-Ca Patienten, 1985

[2] Vgl. Schütze, Fritz , Biography Analysis on the Empirical Base of Autobiographical Narratives: How to Analyze Autobiographical Narrative Interviews – Part one and two”, European Studies on Inequalities and Social Cohesion, 2008

[3] Vgl. Van der Kolk, Verkörperter Schrecken 2019

[4] Vgl. Harari , Homo Deus 2015

[5] Vgl. Zhao Ting Alles unter dem Himmel 2020 

[6] Vgl. Barry Long, Ein Gebet für das Leben, 2002

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Ich. Du. Wir. Dialog.

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Von der Kraft der Absicht