Krieg, radikale Akzeptanz und die Macht des Schattens
Bei klarer Sicht können wir es wahrnehmen: es ist Krieg. Die Verwirbelung und turbulente Entwicklung in den ehemals abgrenzbaren politischen Positionen wirken wie die Ruhe vor einem noch größeren Sturm, der die Gemüter wie eine zunehmend steife Brise durchbläst.
Und jetzt weht er durch Europa, eine lange stabil wirkende Zone in der globalen Krisenwelt, nicht mehr weit weg von uns deutschen Nachkriegsgenerationen. Serbien und der albanische Kosovo signalisieren gerade die Instabilität, der politischen Verhältnisse zusätzlich zu den Kriegswirren in der Ukraine. Der eisige Luftzug des vormals kalten Krieges scheint wieder auf neuer Ebene eine vorallem ökonomisch bestimmte Kommunikation zwischen Ost und West einzufrieren. Wir gehen in eine kalte Zone – eine kühle Zone des Schattens.
Der Schatten symbolisiert auf der inneren psychischen Ebene unsere dunkle Seite, die inneren Anteile, die wir verbergen wollen. Unsere Scham – und Schuldgefühle, unsere Selbstzweifel, unsere Angst vor uns selbst und vor anderen. Der Schatten symbolisiert eben die negative Beziehung zu uns selbst und anderen, die uns meist unbewusst bestimmt. Dieser dunkle Teil unseres Selbst führt uns in den Krieg, in die feindliche Haltung zu allem, was uns als Bedrohung erscheint und gleichsam wie in einer Ur-reflexbewegung werden wir selbst aversiv und identifizieren uns mit dem Recht auf Angriff oder Verteidigung. Der Schatten ruft zur Polarisierung und Projektion auf. Das eigene Schlimme wird abgewehrt und nach außen projiziert. Politik der Abschreckung fußt auf diesem Prinzip: die eigene Furcht wird dem Anderen eingejagt und das eigene Sicherheitsgefühl fußt dann auf der Furcht oder der Wut des Gegners.
Je unüberschaubarer und chaotischer die globale politische Organisation und Ökonomie erscheint, umso stärker tritt der Schatten auf den Plan. Die gilt natürlich zu allererst für uns selbst, für das eigene Management und Sicherheitsgefühl in der Lebensführung. Steigt der Druck, steigt die innere Programmierung zunächst an sich selbst zu denken. Das Gefühl von Verbundenheit polarisiert sich auf Verbündete, der Rest erscheint als Feind oder feindliche Gesinnung. Die Basisglaubenssätze und Programmierungen wirken in psychosozialen Stresssituationen wie Hungersnot, Zerstörung kritischer Infrastruktur wie Strom und Wärme, Enteignung und Fluchtdruck, Tod und Verlust wichtiger Bezugspersonen unmittelbar: wir wollen überleben, kämpfen oder sind bereit zu sterben.
Können wir diesen Modus verlassen?
Da sagt der Samurai zum Mönch: „Hey Mönch ohne mit der Wimper zu zucken trenne ich Deinen Kopf vom Körper!“ Der Mönch schweigt einen Augenblick und meint gelassen: „und ohne mit der Wimper zu zucken Samurai, werde ich diesen Körper verlassen“.
In dieser Geschichte scheinen beide diesen Modus zu verlassen: ihre Wimpern zucken nicht. Sie verschließen nicht mehr die Augen vor dem Schatten. Sie sind lebendig und tot zugleich, unbeeindruckt von dem Basismuster von Täter und Opfer. Aber was bedeutet dies für einen „Normalsterblichen“ oder für uns als Quan Dao Krieger*innen?
Als Kampfkünstler sind wir unserer dunklen Seite nicht mehr gutgläubig unbewusst. An das Gute können wir glauben in Gegenwart unseres eigenen Schattens, in Gegenwart des Dunklen der eigenen Täterfähigkeit. Das Gute glauben hebt uns nur dann über die programmierten Überlebenstrigger hinaus, wenn wir nicht mehr mit der Sterblichkeit des Körpers überidentifiziert sind. Jede*r ist eine tödliche Waffe und jede*r ist schon tot.
Diese innere Erlösung aus Schuld und Scham, wie aus der Blindheit gegenüber unserer eigenen zerstörerischen Wut oder der eigenen anhaltenden Ignoranz, - diese Erlösung ist ein Teil des Weges der Quelle. Diese Erlösung beinhaltet den Sprung ins grundlegende Gutsein, was soviel bedeutet mit den Narrativen über Feindlichkeit von anderen ebenso bewusst zu sein, wie mit den Gedanken über die eigene Wichtigkeit und auch Minderwertigkeit. Der innere Frust und der Ärger, dass die Welt so zerstörerisch ist wie sie ist, kreiert gerade dieses Bild, das ich ablehne oder demgegenüber ich mich besser fühle. Nur das EGO kennt Krieg als Möglichkeit von Wert und Selbstwert. Nur das EGO empfiehlt Bewaffnung statt Verhandlung und Dialog. Daher ist Dialogarbeit im Quan Dao Kung Fu so wertvoll für unser inneres Wachstum. Wir dürfen uns aneinander reiben, uns in unseren Stärken und Schwächen begegnen um daran zu wachsen. Daher wird dem Krieg vorgebeugt, indem wir uns voreinander verbeugen und damit uns verbeugen vor all den Gedanken und Deutungsmustern von denen wir uns eingeengt, eingeschränkt, missverstanden, bedroht und abgelehnt fühlen. Mit dieser Verbeugung im Dialog geben wir uns selbst, wie dem Gegner die Möglichkeit sich selbst zu begegnen und loszulassen.
Letztlich bleibt die Weisheit, dass wir nicht kämpfen sollten, wo es nichts zu kämpfen gibt. Und diese Kunst des kampflosen Kampfes erfordert es den eigenen inneren Gegner zu studieren, ihn kennenzulernen und mit ihm ein Bündnis radikaler Akzeptanz einzugehen. Radikale Akzeptanz heißt, dass es sein darf wie es ist und dass es ist, wie es ist, damit ich etwas lernen darf, was mir, dem und der Nächsten, wie dem Ganzen ein inneres und äußeres Wachstum im großen Zyklus des Seins möglich macht.
Gleichzeitig rufen die jungen Generationen: Fight for Future! Und darin liegt eben eine Botschaft die im Angesicht der Klimaperspektiven so viel meint wie: Wenn nicht jetzt, wann dann! Das rüttelt auf und ruft dazu auf in die Gänge zu kommen für die weiteren Generationen, die kommen wollen. Über die eigene Comfortzone hinauszudenken, weit zu werden im eigenen Denken. Dieser Change, der hier angebrochen ist wird von der Akkumulation zum Loslassen in das Gemeinwohl führen. Dies bedeutet für uns hier in Europa zunächst durch Loslassen von alten Mustern der Bedeutung der ersten Welt zu einer neuen Einheit zu finden, die Stabilität in sich trägt und Offenheit.
Auf der Ebene des Selbst steht da der komfortable, widerständige, geheime, schamhafte, wütende, minderwertige Schatten gegenüber der im inneren Kampf gespürt, angefasst und genommen werden will, bis er sich schließlich in einer sanften Atembewegung, die mehr Entspannung und Loslassen als Anspannung ist, angenommen und sich gesehen fühlen darf.
Michael Schmidt