Mit der Quelle fließen…

… ist das ´spirituelle` Quan Dao-Jahres-Thema sowie auch ´Überschrift` des Sommercamps 2023. Doch welche Bedeutung hat dieser Satz – für mich, für dich, für uns? Wer oder was fließt hier eigentlich – und mit wem oder was und wohin – oder einfach nur so dahin…? Und was ist eigentlich die Quelle...? Vermeintlich kommen in jedem/r von uns andere Fragen und auch Gedanken/Antworten dazu auf … ?!

Ich persönlich empfinde diesen Satz als eine Einladung, ja geradezu herzliche Auf-Forderung zu (m)einem In-Bewegung kommen, äußerlich, wie v.a. auch innerlich (was u.a. zu diesen Zeilen hier geführt hat).

Beginne ich mal mit einem persönlichen Begriffsverständnis – für mich stellt der Begriff ´Quelle` ein Symbol für eine von innen nach außen und dann wieder innen gerichtete Kraft dar. Vor meinem geistigen Auge entsteht dabei eine eher runde Bewegung – die mir in dem Buchstaben Q, einem kreisförmigen Symbol mit so einem kleinen Strich unten rechts, der mir wie ein Hinweis auf etwas, einen Anfang, einen Beginn womöglich oder auch von der Vollendung des Kreises unterbrechende Ablenkung – erscheint. Zugleich (an)erkenne ich in der Quelle bildlich so etwas wie eine Urkraft, die mir in der Natur, somit auch jedem Menschen, angelegt zu sein scheint – und mit der wir uns in den Bewegungen des Quan Dao wieder zu verbinden üben, so z.B. auch in den Grundübungen der Kraft, wo der Begriff ´Kraft` bereits Programm ist. Ist Quan Dao damit per se dazu angelegt, mir (diese) Kraft verfügbar zu machen? Und wenn ja, wie und in welcher Form?

Aus meiner Sicht erscheint dieses möglich – durch stetes Üben, Quan Dao im Verständnis eines Übungsweges, einer Weg-Kampfkunst. Dabei liegt nicht das Erreichen eines Ziels, wie bspw. hin zu einer wie auch immer verstandenen Perfektion oder ein bestimmtes zielgerichtetes Handeln im Fokus, sondern das Kultivieren von Bewegung – ein auf dem Weg, in-Be-Weg-ung sein. Dazu gehört ein Verständnis, ein Bewusstsein darüber, über dieses Be-weg-t sein – will heißen, ich übe und nehme zugleich das, was im Üben in/mit mir geschieht, meine Leiblichkeit als Ganzes im Kontext von Lebens-/Umwelt wahr. Ich setze mich also in Beziehung zu meiner Umwelt und die Umwelt in Beziehung zu mir – eine quasi pulsierende Bewegung. Sehr wohl ist dabei die Bewegung ausgerichtet auf ein Können, im Sinne eines Aneignen und Pflegen von Fähigkeiten als dann mir eigene Ressourcen, als Eröffnung eines Möglichkeiten-Felds, in die Welt hinaus und in Verbindung zu treten und mir darüber auch im Klaren zu sein – die Verbundenheit aufzuspüren und damit eine gewisse dem Können entsprechende Handlungsfähigkeit und Grad an (Selbst)Wirksamkeit zu (er)leben. Als Übender kann es mir somit gelingen, in gewisser Weise über Lebenswelt zu verfügen – dieses jedoch mehr im Sinne eines ´mit dieser in Resonanz stehend`, ein gesamtheitlich schwingendes verbundenes System. So erlebe ich dann Lebenswelt, ein in-der-Welt-sein als ein (mit)schwingendes Subjekt in einem Raum zahlloser weiterer Subjekte – wozu meiner Ansicht nach auch die Umwelt im weiteren Sinne zählt (auch wenn diese mehrheitlich als leblos und damit eher ´nur` als Objekt angesehen wird, so dass ich darüber als ein Etwas nach Belieben und möglichst zu meinem eigenen Nutzen verfügen kann und darf - ´der Mensch macht sich die Erde untertan`).

Am letzten Pfingst-Wochenende besuchte ich die Kirche in Saint-Rémy-lès Chevreuse, südwestlich von Paris – eine altehrwürdige, recht schlichte Kirche aus dem 12. Jhdt. Ein dort in einer Ecke der Kirche an der Wand hängendes Kreuz Jesus Christus` hat mich dabei in seinen Bann gezogen und einen großen Eindruck, ja Wirkung auf mich ausgeübt. Diese Darstellung Jesus am Kreuz hatte hier für mich etwas sehr lasziv-gelassenes, ja lustvolles an sich – ein auf mich elegant wirkender Schwung des nach unten zu hängen scheinenden Körpers zu den Hüften, zum Becken, zum Zentrum des Körpers hin. Auch erschien es mir, als wenn dieser Jesus dabei ein wenig milde sanft lächeln würde – dieser Anblick und das was ich dabei in mir wahrnahm, hatte eine sehr beruhigende, ja fast schon erlösende Wirkung auf mich, ja übte gar eine sonderbare Kraft auf mich aus. Jesus Christus der lustvolle Erlöser. Zugleich erfasste mich jedoch auch ein Gedanke bzw. ein Wahrnehmen und Empfinden, dass dieses zutiefst verwerflich sei. Schließlich, so heißt es ja, sei Jesus als Sohn Gottes für uns gestorben, gleichsam als Erlösung – ich dagegen erlaubte mir schamloserweise derartiges Wahrnehmen. So entflammte in mir ein innerer Disput zwischen derlei (selbst)auferlegter Begrenzung und somit Fesseln aufkommender Scham, begleitet von (Selbst-)Zensur mich eigentlich erlösenden Gedanken, sowie zugleich einem Freigeben, einem Loslassen dessen. Ich erlaubte mir ein Verweilen, ein Innehalten darin und damit ein Wirken-lassen. Meinen Verstand mit einzubeziehen verhalf mir zu dabei zu (m)einem eigenen Verständnis und damit Erkenntnis – nämlich, dass dieses ja durchaus auch eine wahre Version sein könnte – Erlösung eben halt auch so begreifen zu können.

Als nächstes quoll mir dann empor: Was wäre, wenn die allgemeingültige und damit weithin anerkannte Geschichte um Gottes Sohn, ein kollektives, mehr als 2 Milliarden Christen verbindendes Narrativ, halt nur eine mögliche Version der Geschichte ist…? Könnte man die Geschichte um ´die Erlösung des Leids` dann nicht auch anders erzählen? Angesichts dessen, dass das Narrativ des neuen Testaments ja weniger eine Geschichte von Jesus selbst, sondern über ihn ist, geschrieben aus der Perspektive, d.h. der Wahrnehmung, der interpretierenden Beobachtungen seiner engsten Begleiter, seiner Schüler – stellt diese Geschichte dann nicht eine zutiefst persönlich angeeignete Weltsicht von Beobachtetem, statt leibhaftig Erlebtem dar …? Ein Konsens aus höchst individuellen Ansichten. Aus einer konstruktivistischen Haltung heraus sollte dieses sicherlich denkbar und auch erlaubt sein zu denken …?! Und angesichts des unvorstellbaren wahrgenommenen Leids, welches beim Tod durch Kreuzigung sicherlich erlebt wird, wäre das ja auch durchaus nachvollzieh- und damit verstehbar. Könnte nicht auch eine alternative Version denkbar sein…? Eine solche jetzt hier zu ´erspinnen` möchte mir ich dabei jedoch nicht ´anmaßen`…

Erlauben möchte ich mir jedoch einen Blick auf eines der bekanntesten Kunstwerke der Weltgeschichte – ´Das Abendmahl` von Leonardo da Vinci. In diesem sind um einen eher gelassen wirkenden Jesus (v.a. angesichts des bei diesem Mahl offenbarten zukünftigen Verrats, der die Kreuzigung und damit die Ankündigung seines nahen leidvollen Todes bedeutet) herum dessen Jünger mit einer ganzen Palette von Körperhaltungen (wie Abwehr und Schreckensstarre) sowie in Mimiken ausgedrückter Gefühle (wie Empörung, Aufbrausen/Wut, Zweifel, Betroffenheit/Trauer) dargestellt. Alles in allem äußerst bemerkenswert! Jesus als gelassen-friedvoller Krieger…? – „(…) im Grunde ist der Weg des Kriegers die unbedingte Bereitschaft zum Tode.“ (M. Musashi – Das Buch der fünf Ringe).

Könnte Erlösung dann nicht auch verstanden werden als Geschichte eines Menschen (stellvertretend und symbolisch für alle Menschen …?!), von Gott auserwählt auf der Erde unter anderen Menschen zu wandeln…? Und dieser, verbunden mit dieser göttlichen Kraft, als ´universeller nährender` Quelle (oder dem ´Himmels-Qi`) die Un-Verfügbarkeit des Todes für den Menschen bedeutet – durch einen Akt der Hingabe an den Tod als einen Zustand, der unvermeidlich kommen wird und Teil des Lebens(-zyklus) ist …? Damit Symbol für das Überwinden der Trennung von Leben und Tod, von Werden und Vergehen – gleich dem Bild der Quelle, die aus dem Inneren entsteht und ins Innere, gleich welchen Weges, vergeht, um von dort wieder emporzuquellen, unendlich…?! Das empfinde ich als für mich wahrhaft erlösenden Gedanken.

Diesen persönlich mir erlaubten Blick auf und damit Verständnis von Erlösung empfinde ich als zutiefst beglückend und auch befreiend – jedoch auch verbindend zugleich. Es offenbart sich ein offener, bereiter Möglichkeiten-Raum – oder Potential – für bewegende Begegnung. 

Schlussendlich möchte ich - an zuvor dargelegte Gedanken zu Entwicklung und Verfügbar-machen von Welt anknüpfend - meinen Blick auf eben damit verbundene Resonanz-Beziehungen werfen – wie kann es mir im Quan Dao gelingen, solche herzustellen…?

Als wesentlich erscheinen mir dazu die Aspekte des Hinhörens, d.h. zu lauschen, was aus der Welt zu mir hin, in mich hineinströmt, sowie des eigenen persönlichen Ausdrucks, d.h. was aus mir in die Welt hinausfließt, als wesentlich. Beides zugleich zu verleiblichen erzeugt Resonanz-Fähigkeit und somit notwendige Fließfähigkeit. Im Quan Dao übe und erfahre ich das im Dialog - dem Ich-, dem Du-, dem Wir-Dialog. In Bewegung mit mir in einer Form, in Kontakt dazu mit einer Gruppe, im leiblichen Kontakt mit einem Gegenüber etc. eröffnen sich Felder, in denen Resonanz jeweils erfahren und geübt und somit kultiviert werden kann. Kultivierte Kampfkunst als Verfügbar-Sein für und mit Welt – komme ich in einen Zustand, in dem ich mir resonantes Leben ermögliche, d.h. durch ein Mich-verfügbar-machen für die Welt bin ich offen für Signale, sende- und empfangsbereit zugleich – Mikrokosmos im Kosmos. Es entstehen ein Raum und eine Zeit, in der Resonanz möglich wird – was ich dann als ein Erleben von ´mit der Quelle fließen` benennen würde. Ja, ich darf mit der Quelle fließen, das ist ausdrücklich erlaubt – womöglich gar erwünscht – wie erlösend!

 Frank Schumann

 

 

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